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Waitan Residential District

Wenn man vom Platz des Volkes zur Flusspromenade am Bund geht, folgt man geradewegs der Nanjing Road, der bekanntesten Straße Schanghais, einer lebendigen Fußgängerzone mit teuren Geschäften. Städtebaulich und architektonisch ist die Straße keine Rarität, aber sie ist sehr bekannt. Außerdem will man zielstrebig zum Bund und die Skyline sehen. Also geht man schnurstracks dorthin und übersieht die Gegenden und Viertel, die links und rechts von der Nanjing Road liegen.

Nur wenige Meter von der hektischen Betriebsamkeit der Einkaufsstraße kann man den Konsum ausblenden, es wird ruhiger und beschaulicher. Die Reizüberflutung lässt nach und stattliche Gebäude ehemaliger Handelsniederlassungen sowie alte Wohnviertel haben eine Chance, wahrgenommen zu werden.


Zwischen Nanjing Road und Suzhou Fluss - der nördliche Teil


Ich beginne meine Erkundungstour am Suzhou-Fluss, der nördlichen Begrenzung des Gebietes, das ich mir erlaufen will. Das Areal ist Teil der ehemaligen britischen Konzession, die sich vom nördlich gelegenen Suzhou-Fluss Richtung Süden bis zur Yan'an Road ausdehnt. Östlich wird dieses Areal begrenzt durch den Bund.


Direkt am Suzhou-Fluss liegt das ehemalige Hauptpostgebäude Schanghais. Von dort geht es südwärts auf der Sichuan Road.

Former Shanghai General Post Office Building
Former Shanghai General Post Office Building

Beijing Road, Shanghai, China
Sichuan Road/Beijing Road

ShameiShamei Building, Beijing Road, Sichuan Road
Shamei Building von 1921, Beijing Road, Ecke Sichuan Road

Vor dem Shamei Building


Nach einiger Zeit erreicht man die Dianchi Road, die manchmal als Filmset genutzt wird. Für Filmaufnahmen wird die Straße abgesperrt und gegebenenfalls mit Nebelmaschinen eine cineastische Atmosphäre geschaffen.

Dort findet man zwei interessante, alte Institutionen Schanghais, das East Sea Coffee und den Jazz Club im Fairmont Peace Hotel.


East Sea Coffee, Dianchi Road
East Sea Coffee, Dianchi Road

East Sea Coffee, Dianchi Road

East Sea Coffee


Das East Sea Coffee wirkt etwas plüschig und man fühlt sich wie im alten Europa, etwa in Wien. Man bekommt nur schwer einen Platz und muss meistens auf einem der gelb gepolsterten Hocker vor dem Tresen Platz nehmen, bis man einen Tisch zugewiesen bekommt. Das Personal spricht Englisch und außer Kaffee und Kuchen gibt es hier auch Mittagessen, wofür viele Gäste gern kommen, so dass man auch mittags nicht sofort platziert wird. Auf der Speisekarte stehen diverse russische Gerichte mit Borsch. Das Café wurde 1941 von dem russisch-jüdischen Einwanderer Semyon Libermann gegründet, der wie viele andere jüdische Emigranten aus Europa hierher floh. Vor allem die aus Wien stammenden Juden bereicherten die Kaffeehausszene Schanghais mit ihren Neugründungen. Das East Side Coffee hieß anfangs Mars Café, befand sich auf der 147-149 Nanjing Road, bis es nach Schließungen und Neueröffnungen an seinen heutigen Ort, 110 Dianchi Road, gelangte und seinen jetzigen Namen bekam.

Besonders empfehlenswert ist der Lemon Pie mit Baiserhaube.

East Sea Coffee, Dianchi Road, Shanghai, China

East Sea Coffee, Dianchi Road, Shanghai, China

East Sea Coffee, Dianchi Road, Shanghai, China

Dianchi Road, Shanghai, China

Dianchi Road, Shanghai, China

Dianchi Road, Shanghai, China

Dianchi Road, Shanghai, China

Der Jazz Club im Fairmont Peace Hotel


Ein paar Meter weiter gibt es eine andere legendäre Institution Schanghais, die älteste Jazzband der Welt, die es schon mehrfach ins Guinnessbuch der Rekorde geschafft hat. Gegründet wurde sie 1980, der älteste Musiker verstarb vor kurzem im Alter von 94, der jüngste ist 79 (Stand 2022). Sie spielen dort jeden Abend von 20 Uhr bis 1 Uhr. Ab 21 Uhr kommt kommt die Sängerin dazu, der Eintritt kostet 300 Yuan, für diese Summe kann man dann essen und trinken. Wer mehr trinkt und isst, zahlt natürlich mehr.

Die Band wird beworben mit den Worten, dass sie zwar nicht die beste Jazzband der Welt sei, dafür aber die älteste. Es gibt in Schanghai sicher spritzigere musikalische Erlebnisse, aber allein die Atmosphäre in dem grandiosen Peace-Hotel ist schon einen Besuch wert. Das Essen ist gut und die Musik begleitet den Abend. Der deutsche Filmemacher Uli Gaulke produzierte 2021 über die Band die Dokumentation "As Time Goes By".

Jazz Bar, Fairmont Peace Hotel Dianchi Road, Shanghai, China
Jazz Bar, Fairmont Peace Hotel Dianchi Road, Shanghai, China

Jazz Bar, Fairmont Peace Hotel Dianchi Road, Shanghai, China
Jazz Bar, Fairmont Peace Hotel


Jazz Bar, Fairmont Peace Hotel Dianchi Road, Shanghai, China
Jazz Bar, Fairmont Peace Hotel

Jazz Bar, Fairmont Peace Hotel Dianchi Road, Shanghai, China
Jazz Bar, Fairmont Peace Hotel

In jedem Stadtteil gibt es alte Viertel mit zweigeschossiger Bebauung, die nach und nach abgerissen werden - so auch hier. Damit stirbt ein altes Stück Shanghai und viel chinesische Alltagskultur verschwindet für immer. Wenn man ein richtig lebendiges altes Viertel besucht, von denen es nicht mehr viele gibt, erlebt man das pralle Leben Chinas.

Fast labyrinthartig reiht sich dort Gasse an Gasse, überall sind Bewohner, die irgendetwas arbeiten, reparieren, kochen, schlafen, spielen. Die Gebäude wirken kaum renovierbar und haben nicht den Komfort, den man heute für selbstverständlich hält. Von unseren Vorstellungen hinsichtlich energetischer Bauweise braucht man gar nicht erst anzufangen. Dennoch ist der Abriss dieser Viertel ein Verlust.

Waitan Residential District, Shanghai, China

Waitan Residential District, Shanghai, China

Wenn ein Viertel kurz vor dem Verschwinden steht, werden die Türen zugemauert, die Fenster in den Obergeschossen werden von innen mit roten Holzplatten zugenagelt. Manchmal wird ein Kreuz auf die Fensterscheibe gepinselt, so wie bei Bäumen, die gefällt werden sollen. Einzelne Einwohner leben noch dort bis zuletzt. Manche Häuserzeilen sind noch nicht betroffen, aber es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis auch ihr Schicksal besiegelt ist. Die Fotos unten zeigen ein Viertel, das bald abgerissen wird.

Waitan Residential District, Shanghai, China

Waitan Residential District, Shanghai, China

Waitan Residential District, Shanghai, China

Zwischen Nanjing Road und Yan'an Road - der südliche Teil


Südlich der Nanjing Road erstreckt sich das Viertel bis zur Yan'an Road. Ich folge zunächst der Sichuan Road und biege nach einigen Metern rechts in die Jiujiang Road. Meine Suche führt mich zu einer bei Deutschen bekannten Institution, dem Restaurant "Schindlers Tankstelle". Die Speisekarte ist authentisch und man bekommt vieles, von der Currywurst über Rinderrouladen bis zu Schupfnudeln, Käsespätzlen, Kaiserschmarrn und natürlich dürfen die Schweinshaxe und die Wurstplatte nicht fehlen. Die Küche ist eindeutig süddeutsch ausgerichtet, Rote Grütze fehlt ebenso wie Finkenwerder Scholle, Matjes mit Bratkartoffeln oder Grünkohl. Aber man kennt es - im Ausland ist deutsch gleich süddeutsch. Wenn man alle Regionen abbilden wollte, würde es die ohnehin schon reichlich bestückte Karte sprengen. Wenigstens gibt es einen riesigen Bildschirm mit filmischen Luftaufnahmen von ganz Deutschland und an den Wänden hängen Bilder von Potsdam usw. Das Essen schmeckt authentisch und wer nach monatelangem Aufenthalt in Schanghai endlich einmal etwas anderes will als chinesische Küche, kann sich hier ein bisschen wie zu Hause fühlen.

Schindlers Tankstelle, Shanghai, China

Schindlers Tankstelle, Shanghai, China

Schindlers Tankstelle, Shanghai, China, Frankfurter Sausage, Würstchen

Schindlers Tankstelle, Shanghai, China

Direkt neben dem Restaurant gibt es einen Buchladen, der irgendwie an eine Bibliothek erinnert, den Buchladen des Christian Council National Committee of Three-Self Patriot Movement of Protestant Churches in China. Es ist eine Mischung aus Café, Studierplätzen, einem Vortragssaal und natürlich einfach einem Buchladen.

CCC/TSPM Book Store
CCC/TSPM Book Store

CCC/TSPM Book Store

CCC/TSPM Book Store

CCC/TSPM Book Store

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat die evangelische Kirche Chinas ihre Zentrale. Sie ist die größte evangelische Gemeinde weltweit, was aber prozentual umgerechnet auf die Einwohnerzahl Chinas nicht viel ausmacht. Das Gebäude wurde während der Kulturrevolution zerstört, aber danach im alten Stil wieder errichtet. Direkt nebenan befindet sich die anglikanische Holy Trinity Church, die aber im Moment (Stand Frühjahr 2022) wegen Renovierungsarbeiten nicht besichtigt werden kann. Sie wurde 1869 fertiggestellt, heißt bei den Shanghaiern "rote" Kirche wegen der Backsteine, mit denen sie im neogotischen Stil errichtet wurde.

Holy Trinity Church, Shanghai, China
Holy Trinity Church, Shanghai, China

Direkt neben der Kirche an der Ecke Jiangxi Road, Hankou Road liegt das alte Rathaus Shanghais, das auf seine Renovierung wartet. Es ist in einigen Filmen zu sehen, die dem Genre "Shanghai-Films" zugeordnet werden, unter anderem dem Film "Rote Sonne" aus den 60er Jahren, einem Revolutionsfilm, der die Vertreibung der deutlich besser ausgerüsteten Kuomintang, die sich im Rathaus verschanzt hatten, durch die Volksbefreiungsarmee thematisiert.

Old Town Hall, Shanghai
Altes Rathaus, Old Town Hall, Shanghai

Geht man die Hankou Road Richtung Bund, erreicht man bald ein weiteres deutsches Restaurant, das "1886".

Hier wird ganz auf Automobiltechnik gemacht. An der Decke des Restaurants hängt ein sich drehender Porsche, BMW-Motorräder zieren die Pfeiler und die Sitze sind in nachgebildete Karosserieteile eingebaut. Das Besteck sieht aus wie Schraubschlüssel, die Vasen sind Kugellager und das ganze Ambiente hat eine Ästhetik von Rost, Stahl und Nieten, die irgendwie ein bisschen an Clubs der etwas härteren Gangart in Berlin erinnern. Deutschland mal anders, nicht in weiß-blauer Oktoberfest-Manier, sondern im coolen Techniklook der Welt der Schrauber. Die Speisekarte ist nicht so deutsch wie bei Schindlers Tankstelle und wüsste man nicht, dass man in einem deutschen Restaurant sitzt, würde man es an der Speisekarte nur ab und zu bemerken.

German Restaurant, 1886, Shanghai, China
German Restaurant, 1886, Shanghai, China

German Restaurant, 1886, Shanghai, China

German Restaurant, 1886, Shanghai, China

Von dort führt mich mein Weg zurück zur Fuzhou Road, die ich weiter Richtung Süden gehe. An der Kreuzung Fuzhou Road/Jiangxi Road gibt es ein beeindruckendes Architekturansemble, bestehend aus vier Art-deco-Hochhäsern an jeder Ecke der Kreuzung, die mit ihren konkaven Fassaden eine zylinderartige Einheit bilden. Zwei der Gebäude sind vollkommen symmetrisch gestaltet. Es sind das ehemalige Metropole Hotel, das von dem Immobilienmogul Sir Victor Sassoon gebaut wurde, auf dessen Initiative auch der Bau des Peace Hotels am Bund/ Ecke Nanjing Road zurück geht, eben jenes Hotel mit dem Senioren-Jazz-Club, sowie das symmetrische Gebäude auf der gegenüberliegenden Ecke, das Hamilton House, das vermutlich auch durch Sassons Initiative entstand. Ein wenig erinnert das Ensemble an Stadtplanungen aus der Renaissance oder dem Barockzeitalter, als Gebäude in einen Gesamtplan eingebunden wurden und die Stadt an sich zum durchgeplanten Kunstwerk wurde. Der Art Deko-Stil der Hochhäuser erinnert ein bisschen an Gotham City, eine Assoziation, die ich in Schanghai öfters bekomme.


Fuzhou Road/Jiangxi Road, Waitan Residential District, Shanghai, China
Kreuzung Fuzhou Road/Jiangxi Road

Fuzhou Road/Jiangxi Road, Waitan Residential District, Shanghai, China

Fuzhou Road/Jiangxi Road, Waitan Residential District, Shanghai, China

Fuzhou Road/Jiangxi Road, Waitan Residential District, Shanghai, China

Fuzhou Road/Jiangxi Road, Waitan Residential District, Shanghai, China

Von hier geht es die Fuzhou Road hinab Richtung Bund. Dort, so las ich, solle es ein Café geben mit einem Balkon, vom dem man beim Kaffee trinken den perfekten Blick auf den Oriental Pearl Tower hat. Künstlerisch, unkonventionell soll es sein, vielleicht mit ein bisschen Marrakesch- oder Havanna-Feeling ... das Chonor Café. Das Haus finde ich, ich gehe vorbei am schlafenden Hauswart und ich staune, dass es hier ein Café geben soll. Die Bilder im Treppenhaus verweisen eindeutig auf die richtige Spur, aber ansonsten habe ich das Gefühl, mich in ein ganz normales, aber ärmlich wirkendes Wohnhaus verlaufen zu haben. Die Etage und Tür finde ich, aber die Bewohnerin, die ich dort treffe, sagt mir, dass es kein Café gebe. Schanghai ist schnelllebig, also habe ich wohl Pech gehabt und die Hinweise im Internet sind überholt. Statt dessen sehe mich in der ungewöhnlichen Umgebung um.


Chonor Café, Shanghai, China
Chonor Café, Shanghai, China

Chonor Café, Shanghai, China

Nur 50 Meter vom Bund entfernt, mitten in einer der teuersten Gegenden der Welt, finde ich dieses Haus mit Gemeinschaftsküchen, Gemeinschaftswaschbecken und Zimmern der Bewohnern, die nebeneinander an den Fluren liegen. Ich frage mich, ob mich die Holzdielenböden und steilen Holzstiegen halten und sehe ein Relikt, wie es noch vor wenigen Jahrzehnten in Schanghai überall zu finden war.



Fuzhou Road, Shanghai, China

Fuzhou Road, Shanghai, China

Nebenan gibt es, wie häufig in dieser Stadt, ganz normale bodenständige Wohnviertel.

Waitan Residential District, Shanghai, China

Waitan Residential District, Shanghai, China

Waitan Residential District, Shanghai, China

Weiter führt mich mein Weg auf der Jiangxi Road bis zur Yan'an Road, dem Ende der ehemaligen englischen Konzession.

Heute ist die Yan'an Road eine der großen Achsen, die Shanghai durchziehen. Früher verlief dort der Kanal Yangjingbang Creek, der die Grenze zwischen der englischen und französischen Konzession bildete. So sah die Gegend früher aus:

University of Bristol - Historical Photographs of China reference number: Bk05-14. From the book 'Shanghai' (published by Max Nössler, c.1907).  The Yang King Pang Creek (Yangjingbang) was filled in to become Avenue Edward VII (now Yan'an Dong Lu), Shanghai.
University of Bristol - Historical Photographs of China reference number: Bk05-14. From the book 'Shanghai' (published by Max Nössler, c.1907). The Yang King Pang Creek (Yangjingbang) was filled in to become Avenue Edward VII (now Yan'an Dong Lu), Shanghai.

Später wurde der Kanal zugeschüttet, um darauf die Edward VII. Avenue anzulegen. Später wurde die Straße umbenannt in Yan'an Road.

Die Straße führt, wie ehedem der Kanal, hinunter zum Huangpu Fluss, dort wo noch der historische Gutzlaff-Signal-Tower steht, den man auf dem folgenden Foto ganz links und klein am Ende der Straße sieht. Es ist der weiße Turm mit dem kreuzartigen Fahnenmast als Spitze. Dieser Turm markierte die Grenze zwischen der englischen und der französischen Konzession. Als man am Huangpu-Fluss die Promenade errichtete, brauchte man Platz und versetzte den Turm ein paar Meter vom Ufer weg.

Yan'an Road, Shanghai
Yan'an Road, Shanghai

Der Gutzlaff-Signal-Tower, Landmark an der Grenze zwischen britischer und französischer Konzession.


Die britische Konzession endet hier, aber man kann weitergehen. Es bleibt interessant. Man überquert die breite Yan'an Road, läuft ein kurzes Stück durch die französische Konzession und erreicht bald das Gebiet des alten chinesischen Schanghais, das von einer mittelalterlichen Stadtmauer aus der Ming-Zeit umgeben war. Die chinesische Stadtmauer wurde vor langer Zeit abgerissen und später das beeindruckende Tor errichtet, das genau dort steht, wo einst die Stadtmauer entlang lief. Heute ist es der Eingang zum bei Touristen beliebten Yu Yuan Garten.






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