Shanghai hat eine Poesie, die sich erst auf den zweiten Blick erschließt.
Poesie? In einer Stadt mit der hypermodernen Skyline des Finanzdistrikts in Pudong? Einer Stadt, mit der man nur Wirtschaftskraft und Business assoziiert?
Shanghai hat viele Gesichter.
Einer meiner Lieblingsbezirke zum Herumschlendern ist die ehemalige French Concession, ein großes Areal mit den Ausmaßen einer Kleinstadt. Man kann unentwegt Neues entdecken, Straßen ablaufen, die man noch nicht zuvor gesehen hat, und selbst wenn sich die Wege wiederholen, macht es Spaß, die Schaufenster genauer anzusehen, in den kleinen Geschäften etwas zu kaufen oder sich in ein Café zu setzen und zu lesen oder Leute zu beobachten.
Der Stadtteil ist voll mit jungen, schönen Menschen, Modeboutiquen und Anklängen an den ehemaligen Kosmopolitismus der 20er und 30er Jahre, dessen Glamour bis in die heutige Zeit strahlt und an dessen Mythos die Stadt anknüpft. Man wandelt zwischen Architektur von Art Deco bis klassischer Moderne oder sitzt im Teegarten unter Palmen und Bananenstauden, das Improvisierte, Unrenovierte wird zur Historie mit Patina und irgendwann stören die wirren Verkabelungen über den Straßen oder die Rohrleitungen und Klimaanlagen, die überall an den Hauswänden hängen, genauso wenig wie die alten, morschen, ungeputzten Fenster. Das alles strahlt den Charme süditalienischer Lässigkeit aus, die anscheinend von der chinesischen Mentalität nicht ganz fern ist.
Man kann am Wukang Mansion, dem bekannten Bügeleisenhaus, eine Erkundungstour auf der Wukang Road und Anfu Road beginnen (um dorthin zu kommen: Metrostation "Jiaotong Universität", Exit 3 oder 4, dann Huaihai Road Richtung Osten gehen). Auf diesen beiden Straßen gibt es unzählige Cafés, Teeräume mit schönen, kleinen Gärten, Restaurants und Hinterhöfe, wie zum Beispiel in der Ferguson Line, die von der Wukang Road abgeht. Schicke Getränke werden am Stand verkauft und junge Leute verwirklichen ihre kreativen Ideen. Es wirkt künstlerisch, man läuft durch verschiedene Architekturstile vom Landhaus bis zur klassischen Moderne und überall erklingt Vogelgezwitscher aus den Gärten der schönen Villen.