Wenn man in Schanghai spazieren geht, durchstreift man viele unterschiedliche Viertel und Welten. Manchmal fühlt es sich an wie eine Zeitreise in die 90er Jahre, manchmal wie eine Modenschau für Cosplay in einer Stadt, die so modern und international ist, dass man erst auf den zweiten Blick erkennt, dass man in China ist.
Die junge und die alte Generation haben unterschiedliche Einkommensverhältnisse, Ausbildungen und Lebensstile, Sie werden durch das starke Band der Verwandtschaft zusammen gehalten, aber die Veränderungen sind unaufhaltsam und man fragt sich oft, wohin die Reise dieser Gesellschaft geht.
In meinem Stadtteil leben hauptsächlich Senioren. Sie verkörpern für mich das alte China, obwohl streng genommen mit der alten Zeit die Phase zwischen dem Kaisertum und der Volksrepublik gemeint ist. Aus dieser Zeit leben wohl kaum noch Menschen. Wenn ich von der alten und der neuen Zeit mit ihrem unterschiedlichen Lebenswandel spreche, meine ich die Zeit der Volksrepublik vor und nach Deng Xiaoping. Der Paradigmenwechsel durch den bedeutenden Staatsmann war durch wirtschaftliche Liberalisierung gekennzeichnet sowie durch Reform und Öffnung. Seit nunmehr fast 45 Jahren wachsen in China Wohlstand, Bildung, Konsum und Besitz. Wenn man heutzutage durch Viertel mit viel junger Bevölkerung im Zentrum Schanghais wandelt, wird man bei den Konsummöglichkeiten kaum Unterschiede zu westlichen Metropolen feststellen. Mehr noch - der Konsum und Luxus Schanghais stellt viele bedeutende Welt-Metropolen in den Schatten.
In diesen Gegenden leben wenige Alte. Sie wohnen am Rand der Innenstadt, wo die Gentrifizierung langsamer ankommt.
Die Lebensweise der Alten, die von von der Ära unter Mao geprägt wurde, wird in den nächsten Jahrzehnten verschwinden.
Viele von ihnen leben ein einfaches Leben mit dem täglichen Einkauf auf dem Markt und dem Sich-Kümmern um die Enkelkinder.
Häufig sieht man in der Markthalle und in Garküchen Gruppen alter Männer um einen Tisch voller verschiedener Gerichte, Schüsseln, dampfender Töpfe. Nach chinesischer Art essen alle mit ihren Stäbchen aus denselben Schüsseln, plaudern Schanghaier Dialekt und rauchen dabei dicke Zigarren. Bei ihrem Anblick frage ich mich oft, was diese Männer alles erlebt haben: Das China unter Mao, den Korea-Krieg, den großen Sprung, Hungersnöte, Kulturrevolution. Welche Wertvorstellungen haben sie, was bedeutet ihnen der Kommunismus, wie empfinden sie die gewaltigen Veränderungen, verstehen sie ihre Enkel?
Häufig sieht man auf den Straßen alte Männer mit Brettspielen und viele, ausschließlich männliche Zuschauer stehen still darum herum, gucken zu und denken mit, wie z.B. hier bei dem Spiel Xiangqi, einer chinesischen Schachversion.
Werden diese Traditionen von der jungen Generation fortgeführt? Ich habe nie einen jungen Menschen gesehen, der dieses Spiel spielt, schon gar nicht auf der Straße.
Allabendlich wird in meinem Viertel auf dem öffentlichen Platz vor dem Park getanzt, viele Paare, viel Musik. Findet eine Frau keinen männlichen Tanzpartner, tanzt sie halt mit einer anderen Frau. Etliche Bewohner der Nachbarschaft gehen einfach nur hin, sitzen auf Bänken oder niedrigen Mauern, gucken zu und verbringen dort ihren Abend. Junge Menschen sieht man bei solchen öffentlichen Tänzen gar nicht.
Neben meinem Wohnhaus tanzt jeden Abend um dieselbe Zeit eine Frauengruppe ihre charakteristischen Gruppentänze. Ästhetische, langsame, synchrone Bewegungen zu harmonischer Musik. Auch diese Frauen sind alle mindestens über 50 Jahre alt.
Manchmal sieht man einzelne männliche Senioren im Park Arien singen und das können sie so gut wie Süditaliener. Die Musik kommt dabei von einem alten Kassettenrekorder.
An anderer Ecke auf einem Platz wird Karaoke in aller Öffentlichkeit gesungen und weil es so viel Spaß macht, gibt es auf einem Platz gleich drei Karaoke-Bühnen und alle singen durcheinander. Auch bei diesem Freizeitvergnügen habe ich auch noch nie einen jungen Menschen gesehen. Karaoke ist zwar auch bei den Jungen beliebt, aber lieber in geschlossenen Räumen.
Irgendwo auf dem Gehweg werden die Haare geschnitten und überhaupt findet viel alltägliches Leben auf der Straße statt. Woanders werden Fische geschuppt, Fleisch geschnitten, gekocht, gegessen. Das pralle Leben - wunderschön.
Der Verkehr in den Seniorenvierteln ist chaotischer als in der luxuriösen Innenstadt. Die Leute fahren, wie sie wollen, mit dem Elektro-Mofa quer über die Kreuzung oder auf dem Bürgersteig zwischen den Leuten.
Die traditionellen Feiertage werden ernst genommen. Während des Frühlingsfestes war mein Viertel fast komplett heruntergefahren, fast alle Geschäfte waren geschlossen und blieben es lang. Erst etliche Tage nach dem Fest erwachte die Straße allmählich wieder zu neuem Leben. Die einzigen Läden, die während der Feiertage geöffnet hatten, waren die üblichen internationalen Ketten, die sich überall in der Stadt ausbreiten. Hier heißen sie "85°", "Paris Baguette" oder "Burger King" und "Starbucks". Der Vormarsch dieser Ketten in die Wohnviertel der Alten ist auch ein Zeichen der sich langsam nähernden Gentrifizierung und der Verdrängung des alten Lebenswandels.
Die glanzvollen Shopping Malls in der Innenstadt sind selbstverständlich geöffnet.
Kinder werden oft von ihren Großeltern aufgezogen, da die Eltern arbeiten müssen. Das teure Leben in Schanghai will bezahlt werden. Nicht selten leben deshalb drei Generationen in einer Wohnung. Weil Chinesen Familienmenschen sind, ist das weniger problematisch als in Deutschland. Viele Großväter holen abends ihre Enkelkinder von der Schule ab. Kurz vor Schulschluss ist der Platz vor dem Schulgebäude voller Elektro-Mofas. Zusammen geht es auf dem Zweirad nach Hause.
Geht man in den Bezirk Jing'an, erlebt man eine vollkommen andere Welt.
Shopping-Malls ohne Ende, Luxusgeschäfte und natürlich das sonntägliche Flanieren mit auffälliger Kleidung, permanente Foto-Shootings und Selfie-Sessions, Selbstdarstellung, Sehen und Gesehen-werden, Konsumfreude und Kaffeetrinken für acht Euro, wovon man sich in den Seniorenvierteln einen Tag lang gut ernähren kann.
In diesem Bezirk sind wiederum die Senioren selten zu sehen. Es ist kaum vorstellbar, dass mancher, der in der Markthalle seines Seniorenviertels in der Garküche isst, ein Restaurant in Jing'an besucht.
Gibt es in Schanghai ein Nachtleben? Ja, aber nicht wie in Berlin, wo sich vieles nicht nur in Clubs, sondern auch auf der Straße abspielt, sondern ausschließlich in Clubs, z.B. The Monkey Lounge in der Julu Road. Eine Flasche Wein 288 RMB, Mindestverzehr 500 RMB, wenn man eine private Lounge für sich und seine Freunde bucht. Solche Clubs öffnen ab 23 Uhr und man kann feiern bis 8-9 Uhr morgens. Ansonsten bekommt man vom Nachtleben in Schanghai nicht allzu viel mit, es findet innen statt.
Der bekannteste und teuerste Club "Asiens" ist der Techno-Club "Taxx" in der Julu Road. Eine Webseite zu den Clubs gibt es im westlichen Internet nicht, man findet sie in chinesischen Apps.
Der Bildungsunterschied zwischen der alten und der jungen Generation ist groß. Die Schulpflicht wurde erst 1982 beschlossen und flächendeckend erst 1986 eingeführt.
Eine Berufsausbildung, wie man sie in Deutschland kennt, gab es für die Alten nicht.
Die junge Generation geht heute für ihre Ausbildung zur Universität oder in Bildungseinrichtungen, die wir als Fachhochschule oder Berufsfachschule bezeichnen würden. Ein Ausbildungssystem wie in Deutschland soll eingeführt werden, damit weniger Leute studieren. Man befürchtet eine Akademikerschwemme.
Man kann gespannt sein, wohin sich die chinesische Gesellschaft entwickelt. Was wird von dem Leben der Alten übrig bleiben? Wird es noch Brettspiele im Freien oder allabendliches Tanzen auf öffentlichen Plätzen geben?
Im chinesischen TicToc gibt es mittlerweile Filme, in denen junge Chinesen die Lebensweise der Alten parodieren, indem sie sich ähnlich kleiden und genau das Verhalten der Alten nachahmen, das ich oben beschrieben habe. Ist das eine Form von Respektlosigkeit? Eher nicht. In China haben die Alten ein hohes Ansehen seit Konfuzius. Der Respekt vor dem Alter ist ein gesellschaftlicher Konsens. Das chinesische Wort 老 (Lao) bedeutet nicht nur "alt", sondern auch "respektiert". Auch wenn die Alten weniger Bildung haben als die Jungen, ist doch jedem jungen Chinesen klar, dass die Möglichkeiten, die man als junger Mensch heutzutage hat, nur möglich sind, weil die letzten beiden Generationen das Land aufgebaut haben durch ununterbrochene Arbeit und Entbehrung. Das Wort "Urlaub" benutzen alte Chinesen so gut wie nie und Urlaub gemacht haben viele davon ihr ganzes Leben nicht. Junge Chinesen wollen hingegen die Welt kennen lernen und reisen.
Das Land ist dynamisch und liebt Innovationen. Wenn man bedenkt, dass die allgemeine Schulpflicht noch keine 40 Jahre flächendeckend umgesetzt ist, fragt man sich, wohin die Reise geht. Geht es in eine Richtung, die Japan und Korea schon eingeschlagen haben? Was wird aus der Tradition der Großfamilie, dem Leben auf dem Land, dem gemeinschaftlichen Miteinander?
Vielleicht kann man sagen, dass der größte Unterschied zur westlichen Gesellschaft, nämlich das Denken und Leben in Gemeinschaft versus das Denken und Leben als Individuum geringer wird. Vielleicht tragen dazu moderne Medien wie das Internet und die sozialen Netzwerke bei. Der Individualismus nimmt in China zu. Häufig sieht man insbesondere in den Filialen moderner Kaffeeketten wie Starbucks oder Costa vereinzelte junge Menschen an ihren Laptops mit In Ear-Kopfhörern, die vor sich hin arbeiten und dabei Kaffee trinken. Alles das sind unfassbare, fast schon revolutionär anmutende Bilder in einer Gesellschaft, die auf Konfuzianismus und Kommunismus aufbaute, zwei gesellschaftlichen Richtungen, die die Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellen und daher vielleicht mehr Schnittmengen haben, als man sich das auf den ersten Blick vorstellen kann.